Verfolgt - Teil 4
Ein Fortsetzungsroman
Lest hier den vierten Teil von Levins Geschichte.

5. Kapitel
Frau Berger betrat den Klassenraum und schaute in die Runde. Ihr Blick blieb an dem leeren Platz in der letzten Reihe hängen. Levin war nicht da. „Weiß jemand, was mit Levin ist?“, fragte sie an ihre Schüler gewannt, aber die schüttelten nur wortlos die Köpfe. „Der ist wahrscheinlich krank oder so“, meinte ein Mädchen aus der ersten Reihe. Frau Berger nickte nachdenklich. „Ja, wahrscheinlich.“ Sie hatte jetzt keine Zeit, über ihren Schüler nachzudenken, aber in ihrem Bauch hatte sich ein merkwürdiges Gefühl breitgemacht. Während der vielen Jahre als Lehrerin hatte sie mit der Zeit ein Gefühl dafür entwickelt, wann ein Schüler Probleme hatte oder es Konflikte in der Klasse gab und ihr Gefühl hatte sie bis jetzt noch nicht getäuscht. Sie fuhr mit ihrem Unterricht fort, merkte aber, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Als es Stunden später zur großen Pause klingelte, machte sie sich auf den Weg zum Lehrerzimmer. Oben angekommen setzte sie sich an ihren Tisch und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht als sich kurz darauf ihr Kollege Oliver neben sie setzte und eine dampfende Tasse Kaffee vor ihr abstellte. „Oh, danke.“ Frau Berger lächelte und nahm einen Schluck. „Alles in Ordnung bei dir, Hella? Du siehst müde aus.“ Oliver musterte sie besorgt. „Nee, passt schon. Ich hab nur schlecht geschlafen“, antwortete sie, woraufhin Oliver sie mit hochgezogener Augenbraue musterte. Hella seufzte, denn er kannte sie einfach zu gut und hatte sie längst durchschaut. „Es geht um einen Schüler. Er heißt Levin und ist vor ein paar Wochen neu in meine Klasse gekommen.“ Sie schwieg einen Moment. „Ich habe das Gefühl, dass es ihm nicht gut geht. Er wirkt immer so abwesend und scheint keinen Anschluss in der Klasse zu finden. Die letzten Tage ist es immer schlimmer geworden und heute ist er nicht zum Unterricht gekommen.“ „Und die anderen Schüler wissen auch nicht, was los ist?“ „Und wenn würden sie es mir nicht sagen. Am Anfang kam er mir so ruhig und ausgeglichen vor, aber vor ein paar Tagen hat er einen seiner Mitschüler verprügelt und ist manchmal einfach frühzeitig aus der Schule abgehauen.“ Oliver nickte nachdenklich. „Ich würde mal mit diesem Schüler reden, der von ihm verprügelt wurde. Der muss doch etwas wissen, denn Levin wird ihn nicht ohne Grund geschlagen haben. Da muss doch vorher irgendwas passiert sein.“ Hella nickte. „Ja, ich denke, dass werde ich machen.“ Hella trank einen weiteren Schluck Kaffee und seufzte. „Komm schon, Hella, mach dich nicht verrückt. Wenn es dem Jungen schlecht geht ist es nicht allein deine Aufgabe, ihm zu helfen. Dafür sind primär seine Eltern da.“ „Ja, aber was ist, wenn das Problem genau dort liegt? Wenn ein Schüler zu Hause Probleme hat und mit seinen Eltern nicht reden kann, wenn er keine Freunde hat, denen er sich anvertrauen kann. Wer bleibt denn da außer uns Lehrern noch übrig?“ Hella sprang wütend auf, woraufhin ihre Kollegen still wurden und sie fragend ansahen. Auch Oliver musterte sie mit verdattertem Blick. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie laut sie geworden war. „Wir dürfen davor nicht die Augen verschließen, nur, weil es vielleicht einige Nerven und Kraft kostet, für ein Kind da zu sein, Herr Kollege“, zischte sie, bevor sie ohne ein weiteres Wort das Lehrerzimmer verließ.
Sie überquerte den Vorplatz mit der Archimedesstatue und nickte immer mal wieder Schülern zu, die sie freundlich grüßten. Dann bog sie nach links und lehnte sich erschöpft an einen Baum. Mit zittrigen Fingern zog sie eine Zigarette aus ihrer Jackentasche, zündete sie an und nahm einen Zug, woraufhin sie sich etwas entspannte. Was war nur in sie gefahren? Wie hatte sie nur derart die Fassung verlieren können? Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete einmal tief durch. Als es gongte machte sie sich auf den Weg zurück ins Lehrerzimmer, wo sie wortlos ihre Tasche schulterte und zu ihrem nächsten Unterricht ging. Sie lief durch die überfüllten Gänge und versuchte, den Lärm der Schüler auszublenden. Immer mal wieder wurde sie von Fünftklässlern angerempelt, aber all das bekam sie nicht mit, denn mit ihren Gedanken war sie ganz wo anders. Sie schloss den Raum ihrer zehnten Klasse auf und trat ein. Nachdem sie ihre Tasche abgestellt und die Schüler begrüßt hatte, begann sie mit dem Unterricht und bald waren die Sorgen um Levin verschwunden. Während sie ihrer Klasse einen Text diktierte, klopfte es plötzlich an der Tür. „Ja?“, rief sie und der stellvertretende Direktor trat ein. „Kann ich sie mal kurz sprechen?“ „Äh ja, klar“, meinte Hella und verließ mit fragendem Blick den Raum. „Sie sind doch die Klassenlehrerin der 6e, oder?“ Hella nickte zögernd. „Ja, bin ich. Hat meine Klasse wieder etwas angestellt?“ Herr Winkler schüttelte den Kopf. „Nein, Frau Berger, dieses Mal ausnahmsweise mal nicht. Es geht um ihren Schüler Levin König.“ Hella wurde blass und ihr Herz schlug augenblicklich schneller. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. „Wieso? Ist etwas mit ihm?“ „Sein Vater hat gerade im Sekreteriat angerufen. Er hatte einen Unfall und liegt jetzt im Koma. Es ist nicht sicher, ob er jemals wieder aufwachen wird.“ Er schwieg einen Moment. „Ich dachte, das sollten sie wissen. Er wird wohl auf absehbare Zeit nicht mehr in die Schule kommen.“ Hella schluckte schwer und schob mit zitterigen Händen eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Aber...was ist ihm denn passiert?“ „Der Vater hat nicht viel gesagt, nur, dass er letzte Nacht nicht nach Hause gekommen ist. Heute morgen haben ihn wohl Spaziergänger im Wald auf dem Weg zu seinem Haus gefunden. Wahrscheinlich ist er die Böschung hinuntergefallen. Dabei hat er sich den Kopf angeschlagen und es kam zu inneren Blutungen. Selbst wenn er wieder aus dem Koma aufwacht, kann es immer noch sein, dass er schwere Hirnschäden davongetragen hat.“ „Oh mein Gott“, Hella stiegen die Tränen in die Augen und sie versuchte mit aller Kraft, sie zurück zu halten. „Gehen sie jetzt zurück in ihren Unterricht und belasten sie sich nicht damit. Es wird schon alles wieder gut werden.“ Er klopfte ihr einmal aufmunternd auf die Schulter, bevor er sich umdrehte und ging. Hella stand wie angewurzelt da und lehnte sich fassungslos an die Wand. Ihr Gefühl hatte sie also nicht getäuscht. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und atmete noch einmal kurz durch, bevor sie sich auf den Weg zum Lehrerzimmer machte.
Ihre 10. Klasse würde auch die letzte viertel Stunde ohne sie zurechtkommen. Oben angekommen kramte sie die Klassenliste der 6a aus ihrer Schultasche, nahm ihr Handy heraus und wählte die Nummer von Levins Vater. Sie musste einfach mehr erfahren. Es tutete eine Ewigkeit, dann erklang die Stimme des Anrufbeantworters. „Mist!“, fluchte sie und knallte ihr Handy auf den Tisch. Konnte denn nicht einmal etwas funktionieren? In ihrem Kopf ratterte es. Das einzige zentrale Krankenhaus war das Klinikum, wenn sie Glück hatte, würde sie dort auf jemanden treffen, der ihr weiterhelfen konnte. Aber konnte sie das wirklich tun? Sie war schließlich ´nur´ seine Lehrerin und hatte kein Recht, sich in die privaten Angelegenheiten ihrer Schüler einzumischen. Sie schüttelte den Kopf. Nein. Dies war ein Ausnahmefall. Sie musste herausfinden, was passiert war, also packte sie ihre Sachen zusammen, zog sich ihre Jacke über und steckte ihr Handy in ihre Jackentasche. Mit schnellen Schritten steuerte sie auf die Tür des Lehrerzimmers zu und rempelte aus Versehen Oliver an, dessen Kaffee sich über sein Hemd ergoss. „Man, Hella! Pass doch auf!“, brauste er auf und schaute sie wütend an. „´tschuldingung“, nuschelte Hella und wollte sich gerade an ihm vorbeischieben, als er sich ihr in den Weg stellte. „Wo willst du eigentlich hin? Hast du nicht noch vier Stunden?“ „Ich...ich hab Migräne. Ich geh nach Hause.“ Er schaute sie mit hochgezogener Augenbraue an. „Ach komm, du hattest noch nie Migräne.“ Sie seufzte. „Okay, es geht um Levin. Weißt du noch? Der Junge, von dem ich dir heute morgen erzählt habe. Er hatte einen Unfall und ich möchte wissen, was passiert ist.“ Oliver musterte sie aufmerksam. „Kannst du dich um eine Vertretung für mich kümmern? Bitte?“ Oliver nickte wortlos und man sah ihm an, dass er etwas entgegnen wollte, aber er verkniff es sich. „Gut, dann geh. Wenn jemand fragt, sage ich, dass du Migräne hast.“ „Danke.“ Hella schenkte ihrem Kollegen ein dankbares Lächeln und verließ das Schulgebäude.
Als sie wenig später die Eingangshalle des Klinikums betrat, spürte sie, dass ihr Herz wild gegen ihre Rippen hämmerte. Mit schnellen Schritten lief sie zum Empfangstresen. „Ja bitte?“ Die Dame am Empfang hob gelangweilt den Blick. „Entschuldigung, wurde hier ein Levin König eingeliefert?“ „Sind sie eine Verwandte?“ „Äh, nein.“ Hella seufzte. „Könnten sie mir bitte trotzdem die Zimmernummer sagen? Bitte, es ist wichtig!“ Die Empfangsdame verdrehte genervt die Augen. „Nein, tut mir leid.“ Für die Frau war die Sache erledigt und Hella drehte sich seufzend um. Sie wollte gerade gehen, als sie plötzlich eine Stimme hinter sich vernahm. „Frau Berger?“ Sie drehte sich um und sah ein Mädchen vor sich. „Cora? Was machst du denn hier? Musst du nicht in die Schule sein?“ Sie erinnerte sich, das Mädchen vor einem Jahr in Deutsch unterrichtet zu haben. „Ich bin wegen einem Freund hier, Levin. Sie kennen ihn doch, oder?“ Hellas Herz setzte einen Schlag aus. „Ja, ja ich wollte auch zu ihm. Weißt du, was passiert ist?“ Cora nickte langsam und die beiden setzten sich auf die Besucherstühle. „Er ist die Böschung auf seinem Heimweg im Wald heruntergefallen und hat sich dabei den Kopf angeschlagen. Dadurch ist es zu inneren Blutungen gekommen. Es ist nicht sicher, ob er jemals wieder aus dem Koma aufwachen wird.“ Cora stiegen die Tränen in die Augen und Hella legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. „Weißt du, wie es passiert ist? Er fällt doch nicht von selbst die Böschung hinunter, oder?“, flüsterte sie. Cora hob langsam den Blick und schaute die Lehrerin mit geröteten Augen an. Dann zog sie ihr Handy aus der Jackentasche, tippte darauf herum und hielt es Hella hin. „Was ist das?“, fragte die Lehrerin verständnislos. „Schüler-TV. Eine Internetseite, auf der man Accounts einrichten kann. Unter anderem wurde eine Seite für Levin eingerichtet. Da...da wurden Bilder und Videos von ihm gepostet und alle können Kommentare dazu schreiben. Levin wurde da echt fertig gemacht.“ Hella nahm das Handy in die Hand und scrollte immer weiter runter. Dann schaute sie Cora fassungslos an. „Das glaube ich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Warum hat das noch nie jemand gemeldet?“ Cora zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, das hat keiner wirklich ernst genommen.“ Hella gab ihrer Schülerin das Handy zurück. „Weiß man, wer diesen Account erstellt hat?“ „Irgendjemand aus der 6e. Die Videos sind alle aus dieser Klasse.“ Hella nickte langsam. Das hatte sie sich schon fast gedacht. „Und du denkst, dass die Gründer dieses Accounts etwas mit seinem Unfall zu tun haben?“ „Die Ärzte sagen, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit gestoßen wurde“, flüsterte Cora tonlos. „Danke, dass du mit mir geredet hast.“
Hella wollte gerade aufstehen, als ein Mann mittleren Alters neben den beiden stehen blieb. „Ich gehe jetzt kurz nach Hause und hole Levins Sachen. Bleibst du hier, Cora?“ Der Blick des Mannes wendete sich zu Hella. „Wer sind sie?“ „Hella Berger, ich bin Levins Klassenlehrerin. Es tut mir leid, was mit Levin passiert ist.“ Sie stand auf und reichte ihm die Hand. „Sind Sie Levins Vater?“ Der Mann nickte. „Christian König. Schön Sie kennen zu lernen.“ Er lächelte und Hella musste ebenfalls lächeln, auch, wenn das in dieser Situation absolut unpassend war. „Ich muss jetzt los“, sagte er mit ernstem Gesichtsausdruck und steuerte auf den Ausgang zu. Hella schaute ihm nach. Irgendwie hatte sie sich den Vater ihres Schülers anders vorgestellt. Er war relativ jung. Ob er wohl verheiratet war? Cora tippte ihr auf die Schulter und riss Hella aus ihren Gedanken. „Was denn?“ „Ich habe sie gefragt, was sie nun tun werden“, meinte Cora. „Ich weiß es noch nicht“, murmelte Hella, „aber ich werde dem Ganzen ein Ende setzen.“ Sie verabschiedete sich von Cora und verließ das Krankenhaus.
In ihrem Bauch breitete sich eine unbeschreibliche Wut aus. Es war ihre Klasse gewesen. Ihre Klasse war wahrscheinlich dafür verantwortlich, dass nun ein Junge im Krankenhaus lag und um sein Leben kämpfte. Hella fuhr auf direktem Weg zurück zur Schule und steuerte auf den Klassenraum der 6e zu. Sie klopfte an und schaute in die fragenden und überraschten Gesichter ihrer Schüler. Wie unglaublich unschuldig sie alle tun konnten. „Darf ich mal kurz stören?“, fragte sie den unterrichtenden Lehrer und dieser nickte wortlos. Sie atmete einmal tief durch um sich zu beruhigen, denn herumschreien war nun keine Lösung. „Meine liebe 6e. Ich denke, ihr wisst, was mit Levin passiert ist?“, fragte sie, aber ihre Schüler schüttelten den Kopf. „Er hatte einen Unfall und liegt im Koma. Es kann sein, dass er stirbt.“ In der Klasse wurde es augenblicklich still. „Ich bin nicht blind und ich weiß, dass Levin von euch gemobbt wurde. Damit ist jetzt Schluss. Ich weiß von eurer geheimen Internetseite und die Schöpfer dieser Seite werden auch etwas mit seinem Unfall zu tun haben. Ich gebe euch Zeit bis zur nächsten Pause. Wenn diejenigen sich bis dahin nicht bei mir gemeldet haben, werden wir die Polizei rufen. Es wird sowieso herauskommen.“ Sie schaute in die erschrockenen Gesichter ihrer Schüler und verließ den Klassenraum ohne ein weiteres Wort.
Wenn sich die Täter bei ihr melden würden, wäre sie sowieso dazu verpflichtet, die Polizei zu informieren, aber das mussten ihre Schüler ja nicht wissen. Kurze Zeit später betrat sie das Lehrerzimmer und ließ sich erschöpft auf ihren Platz fallen. Niemals hätte sie gedacht, dass man als Lehrerin in solch schreckliche Situationen geraten würde. „Kaffee?“, erklang die Stimme von Oliver und Hella schenkte ihm ein mattes Lächeln. „Gerne.“ Er stellte die Tasse vor ihr ab und setzte sich neben sie. „Möchtest du drüber reden?“ Hella schüttelte den Kopf und trank einen Schluck ihres Kaffees. So saßen sie die restliche Stunde schweigend nebeneinander, bis es zur Pause klingelte. „Möchtest du etwas essen? Ich kann dir was aus der Mensa mitbringen“, schlug Oliver vor, aber Hella schüttelte den Kopf. „Gut, dann nicht.“ Er verließ das Lehrerzimmer und Hella lehnte sich erschöpft in ihrem Stuhl zurück. Für einen Moment schloss sie die Augen und versuchte sich zu entspannen. „Hella?“, vernahm sie die Stimme eines Kollegen und schaute sich fragend um. „Da sind ein paar Schüler für dich an der Tür.“ Hellas Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen und sie war mit einem Schlag hellwach. Mit schnellen Schritten steuerte sie auf die Tür zu und vor ihr standen Felix, Marlon und Dilan. Für einen Moment schaute sie die drei überrascht an. Ihre Drohung von vorhin hatte anscheinend Wirkung gezeigt, aber dass es so einfach war, hätte sie nicht gedacht. Mit einem Kopfnicken bedeutete sie den Jungs, ihr zu folgen und betrat einen leeren Raum. „Habt ihr mir etwas zu sagen?“, fragte sie. Felix schaute betroffen zu Boden. „Wir ... wir wollten das nicht“, flüsterte er. „Was? Was wolltet ihr nicht?“ „Dass Levin so etwas passiert. Wir wollten ihm bloß ein bisschen Angst machen.“ „Das nennt ihr ´ein bisschen Angst machen´? Das, was ihr gemacht habt, ist Mobbing! Levin hätte sterben können, ist euch das klar?!“ Die Jungs schauten betroffen zu Boden. „Wir versprechen ihnen, von jetzt an damit aufzuhören. Wir werden so etwas nie wieder tun.“ Hella schüttelte verständnislos den Kopf. „Euch ist klar, dass das ein Nachspiel haben wird. Was mit euch schulisch gesehen passiert, muss der Schulleiter entscheiden, damit habe ich nichts zu tun. Zur Polizei müsst ihr trotzdem gehen, aber dadurch, dass ihr minderjährig seid und euch freiwillig stellt, werdet ihr keine große Strafe bekommen.“ Sie seufzte. „Ich werde jetzt eure Eltern anrufen, damit sie euch abholen und ich hoffe, dass euch das nun eine Lehre sein wird. Das war das letzte Mal, dass ihr einen unschuldigen Menschen gemobbt habt. Habe ich mich da klar ausgedrückt?“ Sie schaute die Jungs an und diese nickten mit hängenden Köpfen. „Eure Internetseite wird auch gesperrt werden, nur damit das klar ist.“
Dann rief sie die Eltern der drei an und informierte den Schulleiter, der versprach, sich um die Jungs und die Internetseite „Schüler-TV“ zu kümmern. „Ich möchte mich bei ihnen bedanken, dass Sie sich so für diesen Jungen eingesetzt haben. Sie haben einen guten Job gemacht“, meinte er und Hella lächelte. Es tat gut, ein Lob zu kassieren. „Die Jungs werden die Schule verlassen müssen, dass ist klar. Ich denke, wir werden eine Kampagne starten, in der Schüler über die Folgen von Mobbing und wie dies verhindert werden kann geschult werden. Ich werde mich sofort dafür einsetzen“, erklärte er. „Machen Sie das.“ Hella verließ lächelnd das Büro des Chefs und ging zurück ins Lehrerzimmer.
Die nächsten Wochen verliefen wie immer. Morgens ging Hella in die Schule, den restlichen Tag verbrachte sie allein zu Hause, bis am nächsten Tag wieder die Arbeit rief. Levin war noch nicht aus seinem Koma aufgewacht und Hella spürte Tag für Tag, wie sehr die ganze Sache sie belastete. Hätte sie früher reagieren müssen? Vielleicht hätte sie die gesamte Sache verhindern können. Nachdenklich saß sie auf ihrem Platz im Lehrerzimmer und starrte in ihre dampfende Kaffeetasse. Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken und sie warf einen Blick auf das Display. Es war eine Nummer, die sie nicht kannte. Misstrauisch ging sie rann. „Hella Berger?“, meldete sie sich. „Frau Berger?“, erklang eine Stimme am anderen Ende der Leitung. „Äh, ja?“ „Levin ist aus dem Koma aufgewacht. Ich dachte, dass sollten sie wissen.“ Es war Levins Vater. Seine Stimme hatte sich in ihren Kopf eingebrannt. „Wow, das ist...das ist ja toll!“ In diesem Moment spürte sie, wie die große Last, die sie die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte, mit einem Mal von ihr abfiel und ihr stiegen vor Dankbarkeit die Tränen in die Augen. „Na dann...danke nochmal“, erklang die Stimme von Levins Vater. „Wofür?“, fragte Hella mit einem breiten Lächeln im Gesicht. „Dafür, dass sie für meinen Sohn da waren, als ich es nicht war.“ In der Leitung war es für einen Moment still. „Wollen sie vorbeikommen? Zimmer 202.“ „Gerne“, flüsterte Hella tonlos, dann legte Levins Vater auf. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und zog sich ihre Jacke über. „Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?“, fragte Oliver überrascht. „Migräne“, meinte Hella grinsend und Oliver nickte lächelnd. „Klar, ich verstehe schon.“
Mit schnellen Schritten verließ sie das Schulgebäude, stieg in ihr Auto und fuhr zum Krankenhaus. Dort angekommen steuerte sie auf direktem Weg auf das Zimmer 202 zu. Sie zögerte einen Moment, bevor sie zaghaft an die Tür klopfte und öffnete. Levin lag in seinem Bett. Er war blass im Gesicht, lächelte aber, als er Hella sah. „Hallo“, sagte sie tonlos und nickte Levins Vater Christian zur Begrüßung zu. „Ich hätte früher mit ihnen reden müssen“, flüsterte Levin heiser, woraufhin Hella nickte. „Jetzt ist alles vorbei und falls so etwas jemals wieder passieren sollte, weißt du jetzt, dass du immer mit jemandem darüber reden kannst.“ Levin nickte und sein dankbares Lächeln machte Hella unfassbar glücklich. Dies waren die Momente, die ihr zeigten, warum sie Lehrerin geworden war. „Kann ich kurz draußen mit ihnen sprechen?“, fragte Levins Vater und Hella nickte. Gemeinsam verließen sie das Zimmer. „Ich möchte mich nochmal bei ihnen bedanken“, begann Christian, aber Hella winkte ab. „Das brauchen sie nicht. Das ist mein Job.“ Christian schüttelte den Kopf. „Nein, sie haben weitaus mehr getan, als es für eine Lehrerin üblich ist. Levin hat mir erzählt, wie besorgt sie um ihn waren und wie sehr sie im helfen wollten.“ Er seufzte glücklich. „Danke.“ Mit einem Lächeln fiel er Hella um den Hals, was die Lehrerin ein wenig überrumpelte. „Ich werde mir einen neuen Job suchen und ab jetzt mehr für meinen Sohn da sein.“ Er löste sich von Hella, die ihn immer noch überrascht anstarrte. „Wie kann ich mich bei ihnen revanchieren? Vielleicht mit einem Abendessen?“ Hella spürte, wie ihr Herz zu rasen begann, und sie bekam keinen Ton heraus. Sie konnte nur wortlos nicken. „Freitag um 19 Uhr in der Pizzeria in Petersberg?“ Hella nickte abermals und ein breites Lächeln zog sich über ihr Gesicht. „Dann bis Freitag.“ Mit diesen Worten verschwand Christian wieder in Zimmer 202 und Hella schaute ihm lächelnd und kopfschüttelnd nach. Dann machte sie sich auf den Heimweg. Die Geschichte mit Levin konnte sie nun endlich hinter sich lassen, aber Christian ging nicht mehr aus ihrem Kopf.
Epilog
Levin schlug sein Schulheft zu, lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück und schaute zu Cora, die gelangweilt auf seinem Bett saß. „Und jetzt?“, fragte sie lächelnd und Levin zuckte mit den Schultern. „Die Sonne scheint und es ist warm. Was hältst du von Schwimmbad? Die anderen aus meiner Klasse sind bestimmt auch schon da.“ Cora nickte. „Perfekt.“ Levin packte seine Sachen zusammen und schulterte seine Badetasche. „Wir müssen aber noch bei mir zu Hause vorbei und meine Sachen holen“, merkte Cora an. „Kein Problem.“ Lachend liefen die beiden die Treppen herunter. „Komm, wir holen uns noch einen Snack.“ Die beiden durchquerten den Flur und betraten die geräumige Küche, woraufhin sie wie angewurzelt stehen blieben und sich kichernd anschauten. „Findest du es nicht etwas merkwürdig, Frau Berger in deiner Küche zu haben?“, raunte Cora Levin zu, aber der zuckte nur grinsend mit den Schultern und nahm sich zwei Schokoriegel aus dem Regal, während Cora Christian und Hella fasziniert beim Küssen beobachtete. „Gegen die Liebe kann man nichts machen“, säuselte Levin und griff seine Freundin am Arm. „Komm, das müssen wir uns nicht länger anschauen.“ „Tschüss Christian, tschüss Frau Berger“, rief Cora, bekam aber keine Antwort. „Die hören dich nicht, die sind mit etwas sehr viel wichtigerem beschäftigt“, meinte Levin und verließ zusammen mit Cora das Haus. „Wenn die beiden mal heiraten, dann ist Frau Berger deine Stiefmutter oder?“, fragte Cora und Levin verdrehte lächelnd die Augen. „Vielleicht bekommst du ja noch ein Geschwisterchen!“, rief Cora mit strahlenden Augen. „Komm! Wer zuerst bei dir zu Hause ist!“
Mit diesen Worten rannte Levin los und fühlte sich so glücklich wie noch nie in seinem Leben. Jeden Morgen freute er sich, seine Klassenkameraden, die mittlerweile seine Freunde waren, in der Schule wiederzusehen, und sein Vater hatte sich einen neuen Job gesucht, war nun öfter zu Hause und hatte endlich eine neue Liebe gefunden. Levin hatte diese Liebe akzeptiert, aber er hatte ihm versprechen müssen, weiterhin seine Mutter niemals zu vergessen. Alles hatte sich zum Guten gewendet und er hatte es endlich geschafft, sich selbst zu lieben, egal, was andere über ihn dachten. Er war perfekt, so wie er war.
Ende