Angst vor nichts.
Wie uns die psychologische Abwärtsspirale Fear of missing out einschüchtert und paralysiert. Und wie man sich befreit.
Fear of missing out, oder kurz FOMO, beschreibt ein Phänomen, das wohl den meisten begegnet sein dürfte. Zum besseren Verständnis folgende Situation: Freunde und Bekannte sind auf einer Party, einem gemeinsamen Abendessen oder treffen sich anderweitig. Man selbst erfährt davon erst über Instagram, fühlt sich dadurch allein und ausgegrenzt: »Warum wurde ich nicht eingeladen?«, »Was verpasse ich?«
Schon seit jeher sehnt sich der Mensch nach sozialer Interaktion. Gruppen bieten Vorteile im Sinne einer Aufgabenteilung, Partnerfindung oder auch vereinfachten Einteilung in Freund und Feind. Solche Mini-Gesellschaften waren aber auch sehr einfach strukturiert: eine überschaubare Zahl an Menschen — das Überleben als Primärziel — und eine klare Hierarchie.
Im Kontrast entstehen heutzutage durch Urbanisierung und Digitalisierung jedoch immer komplexere und intransparentere Netzwerke zwischen immer mehr Menschen. Das überfordert unser Bedürfnis nach sozialer Integrität. Deutlich wird das beim Betrachten der sozialen Medien: Durch die Dauerbeschallung mit neuen Storys, Bildern und anderen Beiträgen erfährt man mehr denn je von den Leben anderer Menschen. Unser eigenes Leben und das persönliche Umfeld erscheinen im Vergleich langweilig. Denn wir sind nicht permanent auf Partys, in anderen Ländern oder auf spannenden Vorträgen. Das löst in uns den Drang nach der Knüpfung neuer sozialer Kontakte aus. Welcher Ort eignet sich da besser als das Internet? Hier scheinen die Möglichkeiten zum Kennenlernen grenzenlos — doch es ist auch der Ort, der in uns überhaupt erst das Gefühl von Einsamkeit ausgelöst hat. In dieser Ambivalenz liegt nach dem aktuellen Verständnis der Hauptgrund für FOMO.
Wie der Name schon sagt, beschreibt sie das Gefühl, etwas zu verpassen. Dem schließt sich ein zwanghaftes Aufrufen von Social Media an. Dort hoffen wir auf Dopaminausschütter, Interaktionen wie Likes, neue Follower und Nachrichten lassen unser Belohnungssystem verrücktspielen. Der Sucht steht nichts mehr im Wege — gleichzeitig der Bezugsverlust zur Außenwelt. Das Leben besteht nur noch aus der For you page. Und das eigentliche Ziel, das Knüpfen neuer Kontakte und Bekanntschaften, hätte man weiter nicht verfehlen können.
Folgen einer solchen Verlagerung der sozialen Interaktion auf das Internet konnten Forscher während des Corona-Lockdowns beobachten: Festgestellt wurde ein Anstieg an depressiven Episoden, sozialen Angststörungen und sogar Suizidgedanken bei Jugendlichen — FOMO löst ebenfalls diese Symptome aus. Und auch physische Folgen stehen in diesem Zusammenhang. Ein erhöhter Drogenmissbrauch sowie Schlafstörungen stellen dabei keine Seltenheit dar.
Aufgrund der Lockdowns vergrößerte sich offensichtlich die Isolation zwischen den Menschen. Im Gegensatz zu den Coronamaßnahmen, die uns alle getroffen haben, treten Symptome der Fear of missing out im Verborgenen auf. Oft fällt beim Betroffenen, wie bei vielen psychischen Krankheiten, keine Verhaltensänderung auf. Die Schwierigkeit, therapeutische Hilfe zu finden und zu erhalten, führt bei Betroffenen oft dazu, dass sie in ein immer tieferes Loch der Ausweglosigkeit stürzen. Ohne Hilfe sitzt man dann da — schaut den anderen bei ihren spannenden Leben zu — und vergisst das eigene.
FOMO muss aber nicht so extrem auftreten. Im Alltag zeigt sich die Angst beim einfachen Neinsagen und paradoxerweise gerade dann, wenn man zu einer Verabredung eingeladen wird. Das Stichwort dabei lautet Gruppenzwang. Oft spiegelt sich das auch in unüberlegten Geldausgaben wider: dann sagt man der Einladung, für die man eigentlich keine Zeit und kein Geld hat, zu; Konformitätsdruck und der uralte Drang, Teil der Gruppe zu sein, überwiegen die rationale Entscheidungsfindung.
Gleichzeitig heißt das nicht, dass jeder Verabredung zugesagt wird. Denn man könnte noch auf ein weiteres Event, eine weitere Party, ein anderes Abendessen eingeladen werden. Daher wird versucht, sich immer eine Hintertür offen zu halten. Das steigert sich bis zur Bindungsangst und erhöht den Druck auf die eigenen Beziehungen zu Freunden und Familie. Vor allem wiegt der Abgleich dieser Beziehungen mit den Illusionen der sozialen Medien schwer: Hauptziel ist die Perfektion — Fehler, egal wie menschlich, sind inakzeptabel.
Eine dritte Art von FOMO zeigt sich bei vielen Jugendlichen mit Blick auf die Zukunft: Ausbildung, Studium oder Start-Up? Lieber eine Auslandsreise? Nach Australien oder in die USA? Unsere moderne Welt bietet eine schier unendliche Zahl an Möglichkeiten. Bei jeder Entscheidung fragen wir uns, was wir verpassen, und ob wir das Richtige tun. In diesem Denken verlieren wir uns und eine innere Unruhe, die uns bei jeder Entscheidung begleitet, entsteht.
Doch dieser Paralyse kann man sich widersetzen. Es geht eben nicht darum, alles zu erleben. Wir als Individuen können uns bewusst für einen Weg entscheiden und unsere eigene Persönlichkeit frei entfalten — das ist es erst, was unsere Leben besonders, und die Zeit, die wir haben, wertvoll macht. Das wichtige im Kampf gegen FOMO ist ein Bewusstsein dafür, dass kein Mensch alles erleben kann; dass jeder Mensch etwas verpasst; dass soziale Medien nur Sekundenbruchteile aus den Leben anderer darstellen; dass kein Leben aus purem Nervenkitzel und Freude besteht, sondern Zeiten der Langeweile oder Trauer völlig normal sind.
Eine Idee, die diese Erkenntnisse vereint, heißt JOMO: Joy of missing out — die Freude am Verpassen. Sich FOMO zu beugen heißt, keine Zeit für sich selbst finden. Ohne diese Zeit, ohne Ruhe und ohne Möglichkeiten zur Reflexion, bieten einem die schönsten Erlebnisse keinen Mehrwert. Wir Menschen sind von Natur aus gezwungen, sich Auszeiten zu nehmen. Ohne Schlaf erleidet zum Beispiel unsere physische Verfassung Defizite. Genauso destabilisieren wir unsere psychische Verfassung, wenn keine Zeit mehr für uns selbst bleibt. Wenn also das nächste Mal alle draußen sind und irgendwas erleben, können wir uns über die Zeit, die wir dann für uns selbst haben, freuen. »Was verpasse ich?«, ist die falsche Frage, denn in diesem Moment sind wir frei von gesellschaftlichen Zwängen — wir können ihn nach unseren persönlichen Vorstellungen und Wünschen gestalten. Und außerdem: es ist doch erst die Zeit, die man allein verbringt, die Momente mit den Engsten besonders macht.
Quellen
Gupta M., Sharma A. (2021). Fear of missing out: A brief overview of origin, theoretical underpinnings and relationship with mental health. https://doi.org/10.12998/wjcc.v9.i19.4881
Liu, X., Liu, T., Zhou, Z. et al. (2023). The effect of fear of missing out on mental health: differences in different solitude behaviors. https://doi.org/10.1186/s40359-023-01184-5
Fumagalli E., Dolmatzian M. B., Shrum L. J. (2021). Centennials, FOMO, and Loneliness: An Investigation of the Impact of Social Networking and Messaging/VoIP Apps Usage During the Initial Stage of the Coronavirus Pandemic. https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2021.620739
Windscheid, L. (2021). Besser Fühlen. Rowohlt Verlag GmbH
Kleine R., Galimov A., Hanewinkel R. et al. (2023) Impact of the COVID-19 pandemic on young people with and without pre-existing mental health problems. https://doi.org/10.1038/s41598-023-32918-5