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| von Selina Metin

"Ich will nicht sterben"

Gewalt gegen Frauen in der Türkei

Am 25. November ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Weltweit gab es im letzten Jahr Proteste und Demonstrationen - auch in der Türkei. In Istanbul sammelten sich die Frauen und protestierten gegen Gewalt und Unterdrückung, mit der viele Frauen in der Türkei leben müssen. Doch sie wurden gewalttätig von der Polizei attackiert und mit Tränengas zurückgedrängt, obwohl sich kurz davor die Frau von Präsident Erdoğan mit den Worten äußerte: „Heute dürfen die Frauen für ihre Rechte demonstrieren“.

Seit tausende Frauen in Chile mit einer gemeinsamen Performance gegen Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen protestierten, geht der Protest-Tanz um die Welt. Diese Aktion inspirierte auch die Frauen in der Türkei. Die Istanbuler Frauen sammelten sich im letzten Jahr in Kadiköy und tanzten mit den Worten: „Ich bin nicht schuldig, egal wo ich bin oder was ich anziehe. Ich bin nicht schuldig. Du bist der Vergewaltiger. Du bist der Mörder.“ Die Polizei in der türkischen Metropole Istanbul nahm mehrere Demonstrantinnen fest und drängte sie mit Tränengas zurück. Die Türkei war ein Land, in der Frauen durch die Gewalt der Polizei leiden mussten, da sie gegen Gewalt an Frauen demonstrierten.

Statistiken zeigen drastische Zahlen. Die Anzahl der Frauenmorde steigt weiter.

Alleine im Juli 2019 wurden 31 Frauen grausam ermordet. Im November waren es sogar mehr als 39 Frauen. 2018 wurden laut der Organisation „We Will Stop Femicide“ in der Türkei 440 Frauen durch ihren Partner oder ein Familienmitglied ermordet. Im letzten Jahr wurden mehr als 474 Frauen Opfer von tödlich endenden Straftaten und 95 Prozent waren Opfer ihrer Ehepartner oder von Verwandten. Und dies sind nur die bekannten Fälle. Außerdem haben Studien zufolge mehr als 40 Prozent der türkischen Frauen schon häusliche Gewalt erlebt. Und diese Zahl erhöht sich stetig. Physische und verbale Gewalt ist Alltag der türkischen Frauen geworden. Dass die Frauen sich scheiden lassen wollen, sei oft der Grund für diese grausamen Ermordungen.

Im August 2019 schockierte ein Video auf Twitter, in dem eine junge Frau ermordet wurde. Wie die „Deutsche Welle“ berichtete, wurde Emine Bulut von ihrem 43-jährigen Ex-Ehemann vor den Augen ihrer zehnjährigen Tochter in der Öffentlichkeit erstochen. „Ich will nicht sterben“, schrie sie. „Mama, bitte stirb nicht“, schrie ihre Tochter. Das waren die letzten Worte Buluts, die im Video gezeigt wurden. Es wurde überall verbreitet und war lange in den türkischen Trends. Ihr Tod löste landesweit Entsetzen aus. Doch nicht nur in der Türkei, sondern auch weltweit wurde dieses Video zum Gesprächsthema. Viele zeigten Mitleid und Unterstützung und sprachen sich für Frauenrechte aus. Der Täter erhielt Hass-Kommentare und Bedrohungen.

Innerhalb weniger Tage wurden die Worte der tödlich Verletzten zum Protestslogan. In mehreren Städten gingen Frauen auf die Straße. „Wir wollen nicht sterben“, stand auf Plakaten, die einige Teilnehmerinnen in die Luft hielten. In sozialen Netzwerken war die Anteilnahme groß. Weltweit starteten die Frauen eine Challenge auf Instagram. Unter dem Hashtag #ChallengeAccepted posten Frauen Schwarz-Weiß Selfies, um auf die Femizide in der Türkei aufmerksam zu machen. Mehr als 5 Million Fotos wurden mit diesem Hashtag bereits gepostet. Der Istanbuler Fußballverein Besiktas legte vor Spielbeginn eine Schweigeminute ein. Prominente, Künstler und Politiker äußerten sich bestürzt. „Wir haben Emine B. wegen männlicher Gewalt verloren“, twitterte Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Man stehe hinter Frauen und Kindern, die Opfer von Gewalt seien, so der CHP-Politiker weiter.

Trotz Protesten gegen Frauenmorde und Gewalt an Frauen gibt es keine Veränderung  

Ayse Tuba Arslan wurde auf der Straße von ihrem Ex-Ehemann umgebracht. Laut dem CHP-Politiker habe sie 23 Mal eine Strafanzeige bei der Polizei erstattet, aber trotzdem sei er nicht festgenommen worden. In Arslans Tasche fand man einen Beschwerdebrief, in dem sie schrieb, dass sie oft bedroht und gewalttätig attackiert wurde. Außerdem habe er sie oft vergewaltigt. In ihrem letzten Hilferuf an die Polizei schrieb sie: „Werden Sie mir erst helfen, wenn ich sterbe?“

Ceren Özdemir wäre  21 Jahre alt geworden, wäre sie nicht von Özgür A. ermordet worden. Es war nicht seine erste Straftat. Der Täter saß seit 2005 wegen Mordes an einem Kind im Gefängnis. Er wurde 2018 in einen offenen Vollzug in Rize verlegt, aus dem er nach kurzer Zeit floh. Nachdem die Sicherheitskräfte ihn wieder festnehmen konnten, wurde er erneut in ein geschlossenes Gefängnis in der Provinz Ordu transferiert. Weil er „gutes Verhalten“ gezeigt habe, durfte er am 28. Oktober 2019 erneut in den offenen Vollzug, aus dem er am 1. Dezember erneut floh. Zwei Tage später ermordete er die Ballerina Ceren Özdemir. Liegt die Schuld hier vielleicht auch an dem problematischen türkischen Justizsystem, das einen Kindermörder in einen offenen Vollzug verlegt?

Die Rolle der Politik

Präsident Erdoğan äußert sich wenig über die Frauenmorde. Für ihn gibt es wichtigere Alltagsthemen, wie zum Beispiel, ob das Rauchen von Zigaretten im Auto verboten werden soll, aber nicht, wie Frauenmorde verhindert werden können. Er äußerte sich dagegen in den vergangenen Jahren über die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die er als unnatürlich ablehnt. Eine komplette Gleichstellung der Geschlechter sei „gegen die Natur“, sagte er in einer Rede vor dem Frauenverband Kadem in Istanbul. Der Islam habe für die Frau die Rolle der Mutter vorgesehen. Erdoğan und seine Partei stehen deshalb in der Kritik. Sie tun zu wenig, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern, Opfer erhalten wenig Unterstützung und zu oft kommen die Täter mit Strafmilderungen davon.

Frauenrechtsorganisationen streben nun nach einem politischen Wendepunkt. Die Türkei hat zwar 2012 unter der Führung der AKP als erstes Land die Istanbuler Konvention ratifiziert - eine Übereinkunft des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt - und im Gesetz 6248 verankert. Jedoch ist dies kaum durchgesetzt worden. Viele fordern eine Überarbeitung des Gesetzes. Aber auch nach dem Fall Buluts wird es die geforderten Reformen nicht geben. Darauf lässt zumindest ein Statement von AKP-Sprecher Ömer Celik schließen. Ihm zufolge ist die Regierung bereit, Maßnahmen zu ergreifen, um die Gewalt gegen Frauen zu beenden. Jedoch sei eine Überarbeitung des Gesetzes nicht erforderlich. Nun plant AKP sogar das Gesetz abzuschaffen. Auch Präsident Erdogan meint, dass sich die Türkei aus der Konvention zurückziehen sollte. Das Gesetz zerstöre das typische Familienbild und führe zur Ausbreitung der Homosexualität. Von der Opposition wurden diese Behauptungen der AKP kritisiert und bemängelt.

Aber bis heute gibt es keine hundertprozentige Sicherheit, ob das Gesetz abgeschafft oder beibehalten wird. Solange sich nicht die Einstellung des türkischen Justizsystems und der Regierung ändert, werden Frauenmorde aktuelles Thema bleiben. In der Zukunft wird auf ein nach Emanzipation strebendes System und weiterhin auf Frauen, die für ihre Rechte kämpfen und sich nicht unterdrücken lassen, gehofft. Solange Frauen nicht im Stillen leben, sondern laut ihren Willen äußern, wird es leichter sein das Ziel der Gleichberechtigung und das Beenden von Männergewalt zu erreichen.

 

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