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| von Jonah Pavic

Wie wir heute noch Vergangenheit gestalten

Über den Umgang mit Geschichte in Deutschland und den USA

Wenn wir an die Geschichte Deutschlands denken, dann fällt uns oft als erstes der Zweite Weltkrieg und der damit verbundene Holocaust oder die Unterdrückung von Minderheiten im Nazi-Regime ein. Unsere – also die „deutsche“ Erinnerungskultur – ist also vor allem von den negativen Ereignissen unserer Geschichte geprägt. Eine Aufarbeitung, wie wir sie hierzulande praktizieren, fördert auch einen offeneren Diskurs über die Vergangenheit und deren Folgen in jeglichen Debatten. Aber wie sieht es mit der Aufklärung in anderen Ländern aus? Wie werden Themen wie Sklaverei in Amerika dort – vor allem im Schulunterricht – behandelt? Und ist Deutschland überhaupt ein Vorzeigeland, wenn es um die Aufarbeitung der Vergangenheit geht?

Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg - Ein Schlussstrich der Gesellschaft

Der Großteil der Bevölkerung hat sich zu Beginn der Nachkriegszeit in Deutschland wohl mehr Sorgen darüber gemacht, wie sie an Geld für Nahrung und ein Dach überm Kopf kommt. Die Geschehnisse während des Krieges waren der Bevölkerung zwar bewusst gewesen, doch aufgrund von Scham für die eigene Nation und des Aufbauwillens nach dem Krieg entschieden sie sich für das Schweigen.

Nach dem Zusammenbruch des politischen Systems und Deutschlands als Ganzem war auch das schlichte Überleben zunächst für viele wichtiger als die Aufarbeitung der Gräueltaten. Diese Haltung führte aber auch zu gesellschaftlicher Ignoranz. Es wurde dementsprechend wenig wegen der begangenen Verbrechen unternommen: die Alliierten führten zwar Prozesse, doch die deutschen Gerichte waren meist nicht interessiert.

Zwar gab es die Regulierung, dass deutsche Gerichte nur mit Zustimmung der Besatzungsmächte Urteile über nationalsozialistische Delikte fällen durften, aber auch nach der Aufhebung dieser Einschränkung gab es keinen großen Aufschwung bei der Aufarbeitung bzw. Verurteilung von Kriegsverbrechen. In der Arbeitswelt spiegelte sich sogar das Gegenteil wider: Ehemalige Mitglieder der NSDAP konnten oft Karriere in der Politik oder in hoch angesehenen Führungspositionen machen. Doch wie kam es dann zu der so modernen Aufarbeitung, die wir heute in Deutschland haben?

Bewegung und Veränderung in den 60er Jahren

Im Kalten Krieg entwickelte sich in den USA die Bewegung gegen den Krieg in Vietnam, deren Proteste einen entschiedenen Beitrag zur Beendigung des dortigen Krieges geleistet haben. Es wurde ein erheblicher Druck auf den Staat ausgeübt, Minister und Mitglieder des Kongresses sprachen sich für eine Friedenspolitik aus. Von den USA ausgehend verbreitete sich die Bewegung weltweit. Vor allem aber in Westberlin. Hier trafen die demokratische und kommunistisch-sozialistische Welt am stärksten aufeinander: Menschen flohen aus dem Ostblock über Westberlin und brachten eine USA-kritische Einstellung in den Westen. Es bildete sich die Studentenbewegung der 60er Jahre. Zeitgleich haben viele Schweigende, nämlich die Opfer der Nationalsozialisten, angefangen, über ihre Erlebnisse und Empfindungen zur Zeit des NS-Regimes, zu sprechen. Fragen wie „Warum haben die Verbrecher und Kriegstreiber immer noch einen so großen politischen Einfluss?“ oder „Wie kann es sein, dass sie jetzt ein besseres Leben führen als die durchschnittliche Bevölkerung?“ wurden gestellt.

Die „unerklärliche“ Vergangenheit bekam also endlich die lang ersehnte Aufmerksamkeit von der BRD entgegengebracht. Die deutsche Justiz begann Verfahren gegen ehemalige Mitglieder und Offiziere von SS und SA, die 1958 gegründete Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von nationalsozialistischen Verbrechen begann auch auf Bundesebene die Verbrechen aufzuarbeiten. Doch anfangs konnten nur Täter, denen direkter Mord nachgewiesen werden konnte, zur Rechenschaft gezogen werden. Das änderte sich erst 2011 – mehr als 50 Jahre später. Und auch wenn man sich nun fragt, was das jetzt überhaupt bringt, dann gibt es immer wieder aktuelle Beispiele von Gerichtsverfahren, die sich mit über 90-jährigen Tätern auseinandersetzen und so zeigen, dass die Justiz wirklich keinen Halt vor dem Nationalsozialismus mehr macht. So kann also die Entwicklung aussehen, wenn sich ein Land – wenn auch spät – mit seiner Geschichte auseinandersetzt.

Umgang der USA mit ihrer Geschichte von Sklaverei und Civil Rights Movement

Während Kolumbus früher als Nationalheld Amerikas bekannt war, so hat sich diese Ansicht heute eher zum Gegenteil entwickelt. Die Einschätzung als „heldenhafter Entdecker Amerikas“ zum „skrupellosen Eroberer“ ist auch dafür verantwortlich, dass der Columbus Day nicht mehr als nationaler Feier-, sondern als Gedenktag bekannt ist. Man muss man also zugeben, dass die USA im Gegensatz zu den bekannten Stereotypen, die USA seien ja ein sehr konservatives Land, in einer gewissen Hinsicht die Absicht hat, gesellschaftlichen Wandel zu durchleben. Und Kolumbus ist auch nicht der Einzige, der im Laufe der Zeit kritisch bewertet wurde.

Wie sieht es mit Kommandanten oder Offizieren aus dem Civil War aus, die für die Südstaaten gekämpft haben? Auch hier wird scharf kritisiert und Forderungen zum Abriss solcher Statuen oder Militärs werden geäußert: „Was würde man denken, wenn man in Deutschland auf Statuen von NSDAP-Funktionären träfe“, ist eines der Argumente für einen Abriss solcher Symbole. Doch die Aufarbeitung von Geschichte ist oft gar kein Thema. Obwohl der sklavenfreie Norden den Bürgerkrieg gewonnen hatte, galten vor allem im Süden weiterhin rassistische Gesetze und Menschen mit dunkler Hautfarbe wurden systematisch diskriminiert. Erst das Civil Rights Movement hat 100 Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg das Wahlrecht und die Gleichberechtigung für alle durchgesetzt. Es ist aber zu bedenken, dass sich auch hier fast alle Südstaaten gegen das Gesetz ausgesprochen haben. Den entscheidenden Unterschied haben die vielen Nordstaaten gemacht.

Heute ist die USA immer noch gespalten: Nicht nur unterscheidet sich der Norden stark von dem Süden, sondern auch das allgemeine politische Klima der Zwei-Parteien-Demokratie trägt zu einem Zweifrontenkonflikt bei. Bis heute gibt es keine gemeinsame – „amerikanische“ – Erinnerungskultur, an der die Menschen festhalten. Auch der Geschichtsunterricht sorgt oft für Skandale, wie zum Beispiel im Jahr 2015, als in Schulbüchern von Neuntklässlern in Texas die Sklaven, die von Afrika nach Amerika verschleppt wurden, als Arbeiter bezeichnet wurden. Das liegt auch daran, dass Texas ein Südstaat ist und dort vor allem eine christlich konservative Mehrheit vorzufinden ist, die ein entsprechendes Geschichtsbild hat.

Auch ein Problem ist, dass es kein verpflichtendes, staatliches Curriculum gibt. In den Staaten gibt es immer noch Streit darüber, welches Bild von Amerika auf welche Weise den Schülern gezeigt werden soll. Dabei geht es den Republicans vor allem darum, eben keine kritische Auseinandersetzung stattfinden zu lassen, sondern viel mehr das Idealbild – also den American Dream, Freedom und Democracy – zu vermitteln.

Zurück nach Deutschland – Wie auch wir an unserer Erinnerungskultur arbeiten müssen

Zu Zeiten des Deutschen Kolonialreichs gab es auch in Afrika deutsche Kolonien. Eine davon: Deutsch-Südwest-Afrika, das heutige Namibia. Eine Sache, die vielen Menschen aber nicht bewusst ist, ist der deutsche Völkermord, dem hier in den Jahren 1904-1908 100.000 Menschen der Herero und Nama zum Opfer gefallen sind. Die Anerkennung dieses Völkermords blieb jedoch für Jahrzehnte aus und erst 2015 begannen Gespräche über Entschädigungszahlungen. Am Ende hat man sich auf 1,1 Milliarden Euro geeinigt. Doch auch diese Entschädigung bleibt nicht ohne Kritik: Denn das Geld ging direkt an den Staat in Namibia, nicht an die geschädigten Bevölkerungsgruppen. Wohin das Geld jetzt also fließt, ist unklar. Das behauptet der Sprecher der Herero, Israel Kaunatjike, in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur. Die namibische Regierung bekomme schon seit 30 Jahren Entwicklungshilfen von Deutschland: „Wo sind diese Gelder hingeflossen? Die Projekte muss man mit den betroffenen Völkern verhandeln und nicht mit dieser […] korrupten Regierung.“

Man sieht also: auch in Deutschland gibt es noch Bedarf an Aufarbeitung eines Großteils deutscher Geschichte. Eine Lösung wäre, diese Themen in der Schule genauso zu behandeln wie den Zweiten Weltkrieg. Das Problem, dass das alles nicht in den ohnehin schon überfüllten Lehrplan passt, bleibt jedoch bestehen.

 

Weiterführende Literatur:

 

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